Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Primitivität

Vererbung und Erziehung

Was steht unter diesen Umständen von der nächsten Zukunft zu erwarten? — Nicht weiteres Fortschreiten, sondern Primitivierung. Dies bedeutet nicht, dass eine Zeit des Abstiegs auf die Ära des Fortschritts folgen wird, sondern dass eine Periode anderer Art und Bedeutung als die zwischen der Renaissance und dem Weltkrieg liegende angebrochen ist: ein Zeitalter nicht der Erfüllung, sondern der Vorbereitung; ein dunkles Zeitalter oder eine Zeit der Nacht im selben Verstand, wie es das Mittelalter war. Solche Epochen bedeuten Perioden der Schwangerschaft. Die Zeiten des Lichts, wie man sie heißen mag, sind mitnichten die einzig wahren und bedeutsamen — sie sind nur die der Reife und Vollendung. In der Tat sind solche dunklen Zeiten in aller Geschichte nicht etwa Ausnahmen, sondern fast die Regel gewesen. Im ersten Teil dieses Buches sahen wir, dass die Stileinheit die Nation wie die Kultur ausmacht. Wie viele große Stile nun hat es auf Erden gegeben? Viele Annäherungen an einen Stil sind zu verzeichnen, doch kam es zumeist zu einem Ende, bevor das Ziel erreicht war. Setzte jedoch ein Stil sich einmal durch, dann endete er meist vorzeitig in Erstarrung. Und dann setzte eine neue Inkubationsperiode ein.

In diesem Sinn darf man von unverkennbaren Symptomen eines bevorstehenden dunklen Zeitalters reden. Heute, genau wie zu Beginn des Mittelalters, steht die junge Generation den Idealen und Zielen der älteren völlig gleichgültig gegenüber. Was ich in der Neuentstehenden Welt den Chauffeurtypus hieß, wird überall Vorbild und Ideal. Dieser Typus ist leidenschaftlich, primitiv, voll der Lebenskraft und Arroganz der Jugend. Es ist natürlich unmöglich, die Tatsachen der Zukunft vorauszusagen, es sei denn, man sei Prophet im okkulten Verstand. Wohl aber kann man die allgemeine Entwicklungsrichtung vorausbestimmen. Hierbei nun dürfte ein Beispiel aus der Vergangenheit zur Verdeutlichung dessen, was wir erleben und was uns bevorsteht, dienen. Deswegen will ich, ehe ich in diesem Zusammenhang das Problem der Vereinigten Staaten behandle, einige Worte der Zeit, da die Kraft des römischen Geistes zu Ende ging, widmen.

Das nachantike dunkle Zeitalter dauerte beinahe tausend Jahre. Die kulturelle Tradition brach ab, selbst wo die Barbaren ihr möglichstes taten, sich zu romanisieren. Der Grund ihres Misserfolges ist der: man mag von anderen übernehmen, was man will, man wird ihnen niemals gleichen, man sei denn mit ihnen eines Geists. Allem äußeren Anschein nach führte mancher Gote ein römisches Leben — innerlich vertiefte die römische Erziehung nur den Abgrund zwischen der Goten- und der Römerseele. Armenius der Cherusker war gebildeter Römer in hohem Maß; eben dies ermöglichte es ihm, den Gedanken eines germanischen Staates zu fassen, der ja den meisten Germanen seiner Zeit unfassbar war. Was aber mochten die alten Römer innerlich von diesen Barbaren denken, die wie sie lebten und doch nicht waren wie sie? Sicher sahen sie in ihnen armselige Nachahmer, die es ihnen zu keiner Zeit auch nur einigermaßen gleichtun würden. Und doch wurden diese Germanen der Römer Erben und später Weltbeherrscher. Sie schufen aus sich heraus eine neue, aus antiken Voraussetzungen unbegreifliche Kultur.

Diese eine Parallele sollte, ernsthaft meditiert, genügen, um jedermann klarzumachen, dass alle Evolution aus dem Fortschrittsbegriff heraus nicht zu verstehen ist. Trotz aller bewusst erstrebten Romanisierung verflüchtigte sich der römische Charakter der germanischen Eroberer mit jeder neuen Generation. Hier erweist sich das Beispiel Frankreichs als besonders lehrreich. Zur Zeit der fränkischen Eroberung war Frankreich durch und durch romanisiert; auch zerstörten die Eroberer, verhältnismäßig gering an Zahl, nur wenig von der alten Ordnung. Allein die Seele Frankreichs wurde nach der Eroberung anders. Um das Jahr 1000 n. Chr. war Frankreich durchaus germanisch geworden; und erst seit den letzten Jahrhunderten gewinnt der lateinische Charakter der französischen Kultur erneut die Oberhand. Dies liegt daran, dass die französische Kultur ihrerseits altert, weshalb das moderne Frankreich dem verfallenden Römerreich ähnlicher ist als das der unmittelbar auf Augustus folgenden Jahrhunderte. Diese kurzen Bemerkungen allein schon sollten beweisen, dass der entscheidende Faktor nicht Rasse und noch weniger Erziehung ist, sondern der lebendige Geist, der von innen her das Blut und die bewusste Tradition beherrscht. Dieser lebendige Geist steht zu den äußeren Tatsachen im gleichen Verhältnis wie der Sinn eines Satzes zu den Worten und Buchstaben, die ihn ausdrücken. Ägyptens lebendiger Geist ist nicht aus der Technik des Pyramidenbaus zu deduzieren: das Umgekehrte gilt. Der griechische Geist bedeutet einen neuen Standort, von dem aus die Mittelmeervölker die Welt sahen. Gleiches gilt vom christlichen Geist gegenüber dem der heidnischen Antike. Soviel Vererbung und Erziehung bedeuten mögen — welchen Geist der höchste rassische Typus ausdrücken, wozu die beste Erziehung dienen wird, lässt sich mit einiger Sicherheit nur solange voraussagen, als ein gegebener Kulturgeist lebendig ist. Ist er tot, dann bezeichnet das Wort Fortschritt gar nichts, wenn nicht die Geburt einer neuen Seele mit all ihren unvoraussehbaren Eigenschaften.

Im Lauf der Weltgeschichte hat es so manche Wandlung der Kultur und des Geistes gegeben. Nur im Fall unseres Mittelalters jedoch reden wir von einem dunklen Zeitalter. Welches sind nun die Gründe, die mich ein neues dunkles und nunmehr weltumspannendes Zeitalter voraussehen lassen? Der Grund ist dieser: Die in dieser Wende erfolgende Wandlung ist gleich radikal wie die vor zweitausend Jahren; und in beiden Fällen folgte das dunkle Zeitalter auf eins wirklichen Lichts. Radikal bedeutet an der Wurzel. Am Ende der Antike fand ein absoluter Bruch der Kontinuität statt zwischen der alten und der neuentstehenden Welt, weil das, was von ersterer erhalten blieb, nur mehr dazu diente, als Teil des Gesamtkörpers eine neue — ebenso neuartige wie junge — Seele zu inkarnieren. Dieser Umstand erklärt, wieso auf die so verfeinerte Kultur der Antike eine Zeit so reiner Barbarei folgen konnte. Und diese war nicht nur tatsächlich, sondern auch absichtlich barbarisch: es ist die natürliche Reaktion des Rohen und Wilden gegenüber ihm unerreichbarer Kultur, auf sein Barbarentum desto mehr Nachdruck als auf eine positive Eigenschaft zu legen.

Dies führt uns denn zum Sonderproblem der Verjüngung Amerikas. Ich musste zunächst zeigen, inwiefern es kein Einziges bedeutet. Nicht einzig ist es als Ausdruck historischer Verjüngung überhaupt. Im übrigen aber ist es einzig wie jedes individuelle Lebensproblem. Auch sein besonderer Entwicklungsrhythmus ist anders als der des übrigen Westens. Seine Geschichte begann später als die von Europa. Während der Krise des Weltkrieges konnte allein die amerikanische von allen Nationen des Westens die Ergebnisse früherer Entwicklung erhalten und konsolidieren. Immerhin handelt es sich auf beiden Seiten des Atlantiks insofern um einen gleichen Entwicklungsrhythmus, als beiderseits die schöpferischen Ideen des 18. Jahrhunderts — um nur die letzten zu nennen, die das westliche Leben geformt haben — ihr natürliches Ende erreicht haben. Doch gerade wenn wir das Sonderproblem der Vereinigten Staaten als Sonderaspekt des allgemein-westlichen Problems betrachten, tritt seine Eigenart besonders deutlich hervor. Sie tut dies zumal in dem Sinn, auf den ich im Reisetagebuch den Hauptnachdruck legte, nämlich, dass die Amerikaner die typischsten Westländer sind. Nirgends erscheint die solution de continuité, welche die alte von der neuen Generation trennt, dermaßen extrem. Dies hat seinen Grund darin, dass nirgends sonst die Ideen des 18. Jahrhunderts sich in ihrer Reinheit so lange geltend machen konnten. Soweit inneres Erleben in Betracht kommt, hat es in Amerika kein 19. Jahrhundert gegeben. In den meisten denkenden Vertretern der älteren Generation fand ich noch den Geist John Lockes und der sonstigen Führer der Aufklärungszeit bestimmend. Der besondere Optimismus Amerikas wurzelt in der Gesinnung des 18. Jahrhunderts; setzte er sich praktisch erst viel später durch, so lag dies daran, dass zunächst noch viele Ideen des 17. Jahrhunderts ihr Leben ausleben mussten. Das Fehlen jeden Glaubens an persönliche Überlegenheit mit seinem Korrelat, der Überschätzung der Gemeinschaftswerte (man gedenke der von den Vorkämpfern der französischen Revolution erfundenen Werteskala, derzufolge ein honnête homme zu sein als höchstes Ziel galt) ist gleichfalls dem 18. Jahrhundert eigentümlich. Gleiches gilt von Amerikas Moralismus, seinem Pädagogismus und Institutionalismus. Alles, was letzterer vertritt, hätte einen fortschrittlichen Durchschnittskopf der Aufklärung entzückt. Denn gerade das 18. Jahrhundert verwarf ja die Vorstellung, dass Menschen seinsmäßig verschieden sein können; gerade das 18. Jahrhundert ließ Können allein gelten; das 18. Jahrhundert zuerst verkündete den Glauben, dass Erziehung und Institutionen alles erreichen können. In dieser Hinsicht also gehört der typische fortschrittliche Amerikaner der älteren Generation nicht einem vorgeschrittenen, sondern einem alten Typus an; einem viel älteren Typus in der Tat, als ihn irgendein europäischer Aristokrat verkörpert. Denn hat dieser viele Traditionen, Ideale und Eigentümlichkeiten beibehalten, die viel älter sind als das 18. Jahrhundert, so hat er sich seither im Einklang mit den neuen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts, die manche seiner Ideen aus dem 18. Jahrhundert berichtigten, fortentwickelt. Dank ihrer einzigartigen Stellung war solche Berichtigung in den Vereinigten Staaten keine Notwendigkeit. Mehr noch: die Ideen des 18. Jahrhunderts konnten drüben wie in einem Vakuum weiterwachsen und sich ausdehnen und dergestalt zu gigantischen Formationen führen.

Hier, und nicht in irgendwelcher Modernität, liegen die psychologischen Wurzeln des Routine- und Maschinen­mäßigen des amerikanischen Lebens. Freilich wäre ohne die im 19. Jahrhundert und später gemachten Erfindungen das meiste dessen, was das moderne amerikanische Leben ausmacht, nicht vorhanden. Doch der Geist, welcher sie nutzt, gehört dem 18. Jahrhundert an; es ist ein alter und kein junger Geist. Institutionen wären nicht stärker als lebendige Menschen, das Ideal Henry Fords, welches Menschen zu Maschinenteilen verwandelt, könnte nicht bestehen, lebten nicht die Ideale des 18. Jahrhunderts fort. Als sie noch jung waren, fiel ihr Positives mehr in die Augen als ihr Negatives; überdies fehlte damals die Möglichkeit, sie im Großen konkreten Mechanismen einzubilden. Beweist dieses eine Beispiel nicht ein für allemal, dass eine Mechanisierung, die bis zur Vorherrschaft der Maschine geht, immer Senilität bedeutet? Und nun werfen wir schnell einen Blick auf jenen Vorkriegstypus, der mit der Maschinenwelt vollkommen harmonisiert. Selten begegnete ich einem, der dem inneren Auge nicht Jahrhunderte alt erschien. Und worüber redet diese Menschenart? Nie vernimmt man einen neuen Gedanken — es ist ein ewiges Wiederkäuen von Schlagworten, die im 18. Jahrhundert wurzeln, von höherem Lebensstandard, besseren Institutionen, gesundem Gemeinschaftsleben und so fort. Wenn das kein Zeichen von Senilität ist, dann gibt es keins. Dies ist auch eine der Wurzeln der amerikanischen Ehekrise: eine erhebliche Anzahl amerikanischer Männer ist in allen Hinsichten senil, weil der Urquell ihres Lebens volle zweihundert Jahre zurückliegt. Der Mensch als wesentlich geistiges Geschöpf altert nämlich in jeder Hinsicht, wenn seine Gedanken alt sind, und nur wenn er geistig jung ist, erscheint er jung. Der Amerikaner vom hier gemeinten Typus ist geistig alt, während die Frauen sich immer im Geist der Zeiten gewandelt haben. Überdies verfügten drüben die Frauen allein über die nötige Muße, um zu merken, dass im Reich möglichen inneren Erlebens seit dem 18. Jahrhundert überhaupt etwas passiert war.

Jetzt liegt wohl auf der Hand, dass die Revolution der amerikanischen Jugend viel extremer ausfallen musste als die von Europa, was allein schon eine Konvergenz mit der von Russland bedingt. Die russischen Revolutionäre nannten sich, seitdem Turgenew das Wort erfunden hatte, Nihilisten, weil ihnen die bestehende politisch-soziale Ordnung nichts bedeutete, weshalb sie einfach vernichten wollten, mochte es mit dem Wiederaufbau gehen, wie es wollte. Die flammende Jugend Amerikas ist fast ebenso unverantwortlich. Und rebelliert sie scheinbar nur gegen die moralische Ordnung, so bedeutet eben dies eine Auflehnung in Bausch und Bogen gegen alle Tradition, denn diese war eben wesentlich moralistisch.

Doch die Ähnlichkeit zwischen der bolschewistischen und der amerikanischen Jugend geht weiter, als aus dem bisher Gesagten zu erschließen war. Was nach der Zerstörung der traditionellen Ordnung als seelischer Lebensrahmen übrigbleibt, ist in beiden Fällen primitiv. Das Nationalbewusstsein Russlands schwang mit einem mal vom 20. zum 15. Jahrhundert zurück. Wie ich in der Neuentstehenden Welt ausführlich gezeigt habe, ist dies der wirkliche Grund, warum der Bolschewismus gesiegt hat. Er entspricht keinem modernen, sondern einem altertümlichen Zustand; in diesem Zusammenhang bedeutet sein sozialistischer Rahmen nicht mehr als eine neue Mode in der Frauenwelt. Nun sind die meisten der Ansicht, dem Amerikaner eigneten sämtliche Hintergründe von uns Europäern. Das ist aber nicht der Fall. Nur physisches, nicht aber psychisches Erbe lässt sich verpflanzen. Die Geschichte des amerikanischen Unbewussten beginnt mit dem 17. Jahrhundert, nicht vorher. Dies erklärt den Extremismus von Amerikas Protest gegen die protestantische Moral, für den es in Europa keine Parallele gibt, mag es zuzeiten noch so demoralisiert erscheinen. Der entscheidende Punkt ist, dass die Amerikaner niemals Heiden waren; sie begannen ihre Geschichte als Christen und als Puritaner obendrein. Deshalb findet das Wachstum einer freieren Auffassung in geschlechtlichen Dingen in ihrem Unbewussten kein Gefüge vor, welches ordnend und richtunggebend wirken könnte. Das Ergebnis war, dass sie ohne Übergang primitiv schlechthin wurden, sobald sie sich von den Hemmungen des Puritanismus lossagten. Ich bezweifle, dass sich unter sogenannten wilden Völkern ein Mädchen aus anständigem Hause fände, das in seinem Handtäschchen für alle Fälle Präservative bei sich führte (ich zitiere aus einem der Bücher von Judge Lindsay), oder dass es irgendwo unter Primitiven denkbar wäre, dass junge Leute beiderlei Geschlechts (ich zitiere den gleichen Verfasser) in Gesellschaft Präservative einkauften, um sich derselben alsdann in einer gemeinsam verbrachten Stunde der Lust zu bedienen: nicht weil den Wilden Präservative unbekannt sind, sondern weil alle uns bekannten Wilden an irgendeine moralische Ordnung glauben und in geschlechtlichen Dingen irgendwelche Hemmungen kennen aus dem Bewusstsein heraus, dass es sich hier um ein Mysterium handelt. Einem Mysterium aber ist, gerade vom wissenschaftlichen Standpunkt, eine ehrfürchtige und nicht etwa eine positivistisch-nüchterne Haltung allein gemäß.

Ich begann mit dem extremsten Ausdruck der Revolution der modernen Jugend; und ich weiß wohl, dass man von Judge Lindsays Enthüllungen aus nicht allzusehr verallgemeinern darf. Nichtsdestoweniger steht fest, dass die Stellung eines hohen Prozentsatzes der amerikanischen Jugend zu sexuellen Dingen theoretisch zum mindesten derjenigen der bolschewistischen gleicht. Das aber bedeutet, dass sie einer primitiven Stufe angehört. Was ist es nun für eine primitive Seele, die in der jüngsten Generation geboren oder neuerweckt wird? Diese Frage ist in bestimmter Form nicht zu beantworten. Doch wie sie auch ausfalle, sie ist jedenfalls spezifisch amerikanisch. Ein völlig neuer Menschentypus ist im Werden, der den Pilgervätern nicht weniger fernsteht wie in Europa der moderne Sozialdemokrat dem mittelalterlichen Ritter.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME